23. Februar 2022

Digitalisierung in der bAV - Chancen digitaler Technologien

Interview mit Mathias Nolle, Leiter Operations & Services, Longial


Weitblick: Alles soll digital werden, auch die bAV. Wie sehen Sie das aus Sicht eines Beraters, der tagtäglich mit Unternehmen und deren Pensionsverpflichtungen zu tun hat?

Mathias Nolle: Unser Geschäft und unsere Dienstleistungen als Pensionsberater basieren zu 95 Prozent auf Daten. Hier steckt ein enormes Potential, die Daten verstärkt zu nutzen, um ein noch besseres Kundenerlebnis zu bieten und damit die Kundenbindung zu verstärken. Dafür ist es notwendig, die bereits vorhandenen Daten mit sinnvollen Algorithmen zu analysieren, zu bewerten und Handlungsoptionen abzuleiten. 

WB: Haben Sie ein Beispiel, wo sich der Vorteil der Digitalisierung in der bAV konkret zeigt?

MN: Der ganze Beratungsprozess profitiert davon. Denn in einem Beratungsgespräch will der Fragesteller – ob Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Personaler oder CFO – eigentlich in erster Linie eine konkrete Antwort: Wie hoch sind die Kosten für das Unternehmen? Wie hoch fällt meine Rente aus? Stehen dem Berater dafür sinnvoll aufbereitete Datensätze zur Verfügung, so kann er im Vorfeld und auch während des Gesprächs verschiedene Szenarien durchspielen, Vergleichsdaten präsentieren und Entscheidungshilfen liefern, beispielsweise, dass 60 Prozent einer Vergleichsgruppe sich für 100 Euro Entgeltumwandlung entschieden haben. Das bedeutet nicht nur mehr Transparenz, sondern auch mehr Effizienz bei der Beratung: Waren früher oft mehrere Termine notwendig, um Unterlagen und Informationen zu beschaffen, auszuwerten und neue Szenarien zu berechnen, so reicht heute oft ein Termin aus. 

WB: Welche Rolle spielen die Erfahrungen in der Corona-Pandemie für die Digitalisierung in der bAV? Und welche Erfahrungen hat die Longial dabei gemacht?

MN: Die Bereitschaft und auch die Akzeptanz, digital zu kommunizieren, ist während der Pandemie, insbesondere während der Lockdowns, stark gestiegen. Doch dieser Trend war auch schon vorher erkennbar, die Einschränkungen durch die Pandemie haben den Prozess nur zusätzlich beschleunigt.

WB: Können Sie dazu ein Beispiel geben? 

MN: Die Longial hat während der Pandemie drei umfangreiche Kundenprojekte mit mehr als 8.000 betroffenen Arbeitnehmern abgewickelt. Dabei wurden bestehende Altersvorsorgesysteme optimiert und teilweise auch neu gestaltet. Die Herausforderung bestand darin, komplexe Informationen mit Entscheidungsoptionen möglichst einfach, verständlich und nachvollziehbar darzustellen. Entsprechend hoch war der Beratungsbedarf seitens der Versorgungsberechtigten und gleichzeitig der Beratungsaufwand auf unserer Seite. Doch alles musste „remote“ ablaufen, also ohne direkten Kontakt. 

WB: Und wie lief das ab?

MN: Alle Informationen und Dokumente für die Versorgungsberechtigten wurden auf unserem Longial bAV-Portal zur Verfügung gestellt. Das Portal war in diesem Fall extra für die Arbeitnehmer geöffnet worden. Die wirkliche Neuerung betraf jedoch die Beratung: Hier haben wir gänzlich auf die bisher übliche Telefonhotline verzichtet und auf ein Onlinereservierungssystem umgestellt – ähnlich wie bei der Tischreservierung in einem Restaurant. Die Mitarbeiter konnten sich über das Portal einen Gesprächstermin online buchen. Die Erfahrungen sind auf beiden Seiten sehr positiv: Das oft hohe Frustpotential durch das Warten in einer Hotline hat ein Ende, der Berater ist zum vereinbarten Termin erreichbar und kann sich bereits vorab gezielt auf den Termin vorbereiten, weil ihm ja bekannt ist, welcher Versorgungsberechtigte sich angemeldet hat. Alle relevanten Informationen (Person, Kampagne, Versorgungssystem, Information, Entscheidungsoptionen usw.) stehen dem Berater transparent zur Verfügung und erhöhen massiv die Beratungsqualität. Der Arbeitnehmer erhält eine individuelle Beratung zu dem von ihm gewünschten Termin. 

WB: Wird die Longial diese Erfahrungen während der Pandemie auch im operativen Tagesgeschäft einsetzen? 

MN: Auf jeden Fall. Ganz aktuell bei unserem nächsten großen Projekt: Dabei geht es um eine Auslagerung auf einen Pensionsfonds. Dies betrifft rund 7.500 Mitarbeiter. Auch hier werden wir die Informationen über das Longial bAV-Portal bereitstellen und die Beratungen über die Onlinebuchung koordinieren. Zudem ist angedacht, diesen Service auch im operativen Tagesgeschäft einzusetzen, nicht nur bei Kampagnen und Projekten. Das beträfe unseren First-Level-Support mit über 100.000 Versorgungsberechtigten. Deren Arbeitgeber haben die gesamte Kommunikation zur bAV an uns ausgelagert. Hier ist geplant, die Beratung ebenfalls digital zu steuern: Terminbuchung online, eventuell mit einem kurzen Hinweis des Arbeitnehmers, welche Fragen ihm wichtig sind, sodass unser Berater sich individuell darauf vorbereiten kann.   

WB: Was ist der konkrete Vorteil für den Kunden, also den Arbeitgeber?

MN: Die bAV zählt neben dem Gehalt sicher zu den wichtigsten Benefits. Durch eine effiziente und professionelle Betreuung und Beratung der Arbeitnehmer steigt die Zufriedenheit und Wertschätzung dieser Vergütungskomponente erheblich.

WB: Welche Erfahrung hat die Longial hinsichtlich digitaler Personalbestände gemacht? Wie oft stoßen Sie noch auf analoge Personalakten?  

MN: Auslöser für eine Zusammenarbeit mit uns sind meist drei Faktoren: Der mit der Betriebsrente im Unternehmen betraute Personaler geht in Rente. Im Rahmen einer Firmenübernahme oder eines -zusammenschlusses kommt es zu einem starken Zuwachs an Komplexität in der bAV-Verwaltung, wofür die Personalabteilungen einen Spezialisten wie die Longial brauchen. Und natürlich spielt die Einsparung von Kosten ebenfalls eine große Rolle. Zu Beginn der Zusammenarbeit steht dann die Frage: Wie bekommen wir die Daten vom Kunden? Hier sehen wir sehr unterschiedliche Strukturen, von komplett digitalisierten Personalbeständen bis hin zu meterlangen Hängeregistraturschränken mit Papierakten. In letzterem Fall werden die Akten im Rahmen des Onboardingprozesses des Kunden gescannt; wir arbeiten hier mit einem Dienstleister zusammen. Doch dies ist immer seltener der Fall, der Umstieg von analog auf digital ist immer öfter bereits vollzogen.

WB: In welchen Bereichen können durch die Digitalisierung konkret Kosten eingespart werden?

MN: Ich sehe hier zwei Schwerpunkte. Erstens: Der Austausch von Daten und Informationen mit am Prozess beteiligten Partnern wie Arbeitgeber, Versicherungsunternehmen, Assetmanagern, Behörden und Versorgungsberechtigten. Die Praxis sieht hier leider oft so aus, dass Daten per Datei und somit meistens Excel transportiert werden. Die Weiterverarbeitung erfolgt manuell und ist von aufwendigen Transformations- und Abgleichprozessen geprägt. Durch weitere Standardisierung und Online-Vernetzung der Partnersysteme ist ein erheblicher Effizienzgewinn möglich.
Zweitens: Durch transparente, verständliche und für den Versorgungsberechtigten nachvollziehbare Bereitstellung von Informationen können ebenfalls Kosten reduziert werden. In der Regel sind diese Informationen bereits digital verfügbar und können somit über Portale digital präsentiert werden. Die Kosteneinsparung liegt auf der Hand: Druck-, Versand- und Logistikkosten können um 100 Prozent reduziert werden. Der Effekt, der durch das positive Kundenerlebnis erzeugt wird, ist durch reduzierte Supportanfragen und mehr Akzeptanz der bAV-Systeme deutlich zu spüren.

WB: Bei der Verarbeitung von Daten ist man natürlich sehr schnell beim Datenschutz. Wie sehr spielt dieses Thema bei Ihren Kunden eine Rolle?

MN: Natürlich ist es ein Thema, dass die Daten sicher transportiert und gespeichert werden. Aber es ist für alle Beteiligten selbstverständlich, dass der Datenschutz und die -sicherheit gewährleistet sind.

WB: Kann die Digitalisierung dazu beitragen, die viel besprochene Komplexität der bAV zu reduzieren?

MN: Ja, auf jeden Fall. Wenn wir noch einmal auf die Eingangsthese blicken, dass 95 Prozent des bAV-Geschäfts auf Daten basieren, dann ist es eine logische Folge, dass eine geschickte Bearbeitung dieser Daten durch entsprechende Algorithmen und weiterer Unterstützung, beispielsweise durch KI (Künstliche Intelligenz), zur Reduzierung der Komplexität beiträgt. Denn nach unserer Erfahrung werden rund um die bAV die meiste Zeit, die meisten Ressourcen und das meiste Geld in den Abgleich von Beständen gesteckt. KI-basierte Tools können hier unterstützen, diese zeitfressenden Prozesse zu reduzieren und freiwerdende Kapazitäten in Beratung und Unterstützung von Entscheidungen umzulenken. Sollte es beispielsweise zu einem Opting-Out bei der bAV kommen, wird der Bedarf und Umfang von Beratung seitens der Arbeitnehmer wachsen. Entsprechend wichtig ist dann eine toolunterstützte und datenbasierte Beratung. Die bAV wird so transparenter und erklärbarer. Zudem können Unternehmen die eingesparten Kosten bei der bAV-Administration in die bAV-Beiträge der Mitarbeiter stecken.

WB: Mit der ab Herbst 2022 zumindest teilweise verfügbaren Digitalen Rentenübersicht ist auch von Seiten des Gesetzgebers ein Schritt in Richtung Digitalisierung in der bAV getätigt worden. Wie sehen Sie das?

MN: Die Grundidee ist richtig und gut. Denn in der Zukunft der Generationen X, Y und Z wird es viel häufiger gestückelte Erwerbsbiografien geben: Zwei Jahre bei diesem Arbeitgeber, ein paar Monate ein anderes Projekt – die wenigsten werden eine durchgehende Erwerbsbiografie von 20 Jahren und mehr bei einem Arbeitgeber aufweisen. Entsprechend zerstückelt werden auch die Rentenansprüche sein. Und umso wichtiger ist es für diese Arbeitnehmer, eine vollumfängliche Information über ihre Altersvorsorge zu erhalten. Nur so können sie Lücken erkennen und gezielt schließen. Damit die digitale Rentenübersicht ihr Ziel erreicht, wirklich alle Informationen der gesetzlichen, betrieblichen und privaten Altersvorsorge darzustellen, ist jedoch ein sehr hoher Aufwand erforderlich. Denn es gibt sehr viele Versorgungsträgerstrukturen und ebenso viele heterogene Informationsformate. Das unter einen Hut zu bekommen und zu gewährleisten, dass alle Beteiligten ihre Informationen auch melden, ist nicht trivial. Aber der Weg ist der richtige. Das zeigt auch die Empfehlung der EIOPA (Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung) an die Europäische Kommission für ein Renten-Tracking-System und ein Renten-Dashboard. Digitalisierte Daten sind hier die Basis für eine Umsetzung.

WB: Es war bisher viel von den Möglichkeiten die Rede, welche die Digitalisierung bietet. Gibt es auch Grenzen der Digitalisierung?

MN: Generell wird zukünftig sehr viel mehr digital erklärbar sein, als das heute der Fall ist. Stellen wir uns mal die Beratung eines CFOs vor, dem die Auswirkung auf seine Konzernbilanz durch Anpassung am bAV-Versorgungssystem erklärt werden muss. Da bin ich mir sicher, dass dies in naher Zukunft nicht durch einen Bot wie Alexa und Co. erfolgen wird. Allerdings bin ich mir ebenfalls ziemlich sicher, dass die Beratung durch deutlich mehr Technologieeinsatz optimiert wird. Berechnungen und Simulationen werden durch KI unterstützt und liefern in Echtzeit Ergebnisse, die live im Beratungsprozess verarbeitet werden. Wir werden also auch hybride Arbeitsweisen erleben.
In der Beratung von Arbeitnehmern ist der Einsatz von Bots eher vorstellbar. Denn hier gibt es mehr Standards, die Fragen ähneln sich und ermöglichen die Generierung von standardisierten Antworten.

WB: Gibt es noch Hürden auf dem Weg zur Ausschöpfung des Digitalisierungspotenzials in der bAV? 

MN: Die bAV mit ihrer hohen Datendichte hat zwar ein hohes Maß an Potenzial, durch Digitalisierung voranzukommen. Allerdings fehlt es noch an Standards, beispielsweise bei Schnittstellen. Zudem ist die IT-Kompetenz oft sehr heterogen. Selbstverständlich holen wir als Dienstleister den Kunden immer dort ab, wo er steht. Doch je weiter er bei der Digitalisierung seiner Daten und seiner IT-Kompetenz ist und je mehr sich die HR-Tools weiterentwickeln, umso schneller und strukturierter können wir auf die Daten zugreifen und nutzen. Auch Folgeservices sind dann einfacher integrierbar. 

WB: Ein abschließendes Wort?

MN: In der Digitalisierung steckt ein erhebliches Potenzial für die bAV: Das Kommunizieren und der Austausch von Daten sind die größten Herausforderungen. Die Digitalisierung ermöglicht es, bei Routineaufgaben zu entlasten, effizienter zu werden, dadurch Ressourcen freizusetzen und diese in das Erklären, Beraten und damit eine stärkere Transparenz der bAV zu investieren.

WB: Herr Nolle, wir bedanken uns für das Gespräch.